Bartleby

Premiere am 14. Februar 2008, 20 Uhr, Tacheles, Berlin

nach Herman Melvilles Erzählung „Bartleby, der Schreiber“
von Babylon Works

Mit: Mareile Metzner, Krzysztof Raczkowski, Christoph Schüchner, Saskia von Winterfeld, Helga Wretman; Live-Musik: Marc Chaet, Giorgio Radoja
Regie: Mathias Schönsee Musik: Marc Chaet Choreographie: Sommer Ulrickson/Marko E. Weigert Ausstattung: Katrin Busching Dramaturgie: Jürgen Nees Technische Leitung: Karl Heinz Krämer Regieassistenz: Jessica Zeitler, Clemens Räthel

„Bartleby“ – Die erste Babylon Works-Produktion

Das Ensemble holt Herman Melvilles
klassische Erzählung ins Heute und
erzählt die rätselhafte, beunruhigende
und komische Geschichte des Schreibers
Bartleby in einem Miteinander von
Sprechtheater, Tanztheater und Live-Musik.

Der Autor

Herman Melville hat nicht mehr erfahren, dass er zum Klassiker der Amerikanischen Literatur wurde. Nicht einmal sein großer Roman „Moby Dick“ fand zu seinen Lebzeiten Anklang. Und auch „Bartleby, der Schreiber“ stieß weder auf Beachtung noch auf Verständnis. Heute gilt die Erzählung als Juwel. Doch ihr verkannter Autor hatte das Schreiben lange aufgegeben, als er verarmt starb.

Die Geschichte

Die bequemste Lebensweise ist die beste – davon ist der Notar überzeugt, der eine Kanzlei für reiche Klienten in Wall Street betreibt. Er lebt ohne Familie, ohne Freunde, und er vermeidet Konflikte mit seinen Angestellten, indem er ihre bizarren Schwächen toleriert: Vormittags ist der verbissene Nippers wegen hartnäckiger Verstopfung mürrisch und eigensinnig, nachmittags hat der trinksüchtige Turkey geschäftsschädigende Ausfälle. Immerhin je eine Tageshälfte arbeiten beide zuverlässig – sie ergänzen einander.

Eines Tages erscheint der stille, bleiche  Bartleby in der Kanzlei. Er schreibt zunächst hingebungsvoll. Doch bald verweigert er nach und nach alle Arbeiten, stets mit der Begründung: „Ich möchte lieber nicht.“. Allerdings möchte er auch die Kanzlei „lieber nicht“ verlassen. Weder gute Worte noch Drohungen bringen ihn von seiner Verweigerung ab. Untätig hockt er mitten im Arbeitsalltag und träumt die Mauern von Wall Street an.

Der Notar ist von dem düsteren Schreiber fasziniert und erschreckt. Er fühlt sich Bartleby nahe, doch retten kann er ihn nicht. Er will sich von ihm lösen, doch er wird ihn um nichts in der Welt wieder los. Er droht, er bietet Hilfe an – vergeblich. Bartleby ist sein dunkles Spiegelbild, es folgt ihm überall hin und treibt ihn vor sich her, geradewegs dem Abgrund zu. 

Bartleby heute

Bartleby sagte „Lieber nicht!“ zum beginnenden Kapitalismus. Der erwartete von Menschen Funktionalität, erachtete Arbeit als sinnstiftend und Profit als gottgefällig. Man hat damals nicht auf Bartleby gehört – mit den Folgen kämpft nun die globalisierte Welt.

Der Druck auf uns alle wächst. Forderungen sind allgegenwärtig: Flexibel arbeiten. Kreativ arbeiten. Frei arbeiten. An sich selbst arbeiten. Attraktiv sein. Attraktiv bleiben. Für das Alter selbst vorsorgen und die Kita selbst verwalten. Den besseren Strom verbrauchen, die biologischere Limonade trinken.

Sich selbst verwirklichen - ist das wirklich noch die persönliche Freiheit, für die so lange gekämpft wurde gegen alle gesellschaftlichen Normen? Oder ist Selbstverwirklichung nun selbst eine gesellschaftliche Norm geworden? Ein Zwang, dem immer mehr Menschen immer weniger gewachsen sind. Vor dem sie sich zurückziehen in die Depression, die längst zur Volkskrankheit geworden ist – sie ist das „Ich möchte lieber nicht“ der selbstverwirklichten Großstadterfolgssinglemenschen.

Können wir unser Leben mitten im sinnleeren Universum tatsächlich nur mit Arbeit sinnvoll gestalten? Was, wenn uns keiner mehr arbeiten lässt, weil der Markt auf unsere Mitwirkung längst verzichten kann? Der Blick in Melvilles dunklen Spiegel konfrontiert uns mit den Paradoxien unserer Lebenswirklichkeit, die wir lieber nicht zu genau ansehen, so lange wir noch funktionieren müssen. Aber in der Freiheit eines Theaterabends können wir uns fragen, ob wir so weiter machen wollen oder – lieber nicht?

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